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Kreuzbeinschmerzen verstehen: Ursachen, Auslöser und die Rolle von Osteopathie und Chiropraktik

  • Autorenbild: Sven Gaertner
    Sven Gaertner
  • 17. Apr.
  • 5 Min. Lesezeit

Einleitung


Viele Patient:innen mit unspezifischen Rückenschmerzen klagen über Schmerzen im Bereich des Kreuzbeins, die oft dem Iliosakralgelenk (ISG) zugeordnet werden. Schätzungen zufolge sind 15 % bis 25 % aller axialen Rückenschmerzen dem ISG zuzuschreiben, wobei manche Untersuchungen sogar von bis zu 30 % ausgehen. Kreuzbeinschmerzen können die Lebensqualität erheblich einschränken und die Beweglichkeit stark beeinflussen. Neben konservativen Behandlungsansätzen gewinnen manuelle Verfahren wie Chiropraktik und Osteopathie zunehmend an Bedeutung, da sie direkt am Bewegungsapparat ansetzen und ohne Medikamente auskommen.


Kreuzbeinschmerzen

In diesem Beitrag erfahren Sie:



1) Anatomie und Pathophysiologie


1.1) Anatomie des Kreuzbeins und des Iliosakralgelenks


Das Sakrum ist ein keilförmiger Knochen, der das Ende der Wirbelsäule bildet und über die Iliosakralgelenke (ISG) mit den Beckenschaufeln (Ilium) verbunden ist. Diese Gelenke stabilisieren das Becken, übertragen Lasten von der Wirbelsäule auf die Beine und dämpfen Scherkräfte während Bewegung und Belastung. Die Gelenkflächen sind durch eine komplexe Bänder- und Muskelarchitektur gesichert, was die Beweglichkeit stark einschränkt und das ISG zu einem relativ starren Gelenk macht.


1.2) Pathophysiologie von Kreuzbeinschmerzen


Mit zunehmendem Alter kommt es im ISG zu altersbedingten Knorpel- und Weichteilveränderungen, die die Gelenkbeweglichkeit weiter einschränken und zu Mikrotraumen führen können  . Auch entzündliche Prozesse, z. B. bei rheumatischen Erkrankungen, können das ISG schmerzhaft irritieren. Die Schmerzursprungspunkte liegen häufig in der Region um die hinteren Beckenkämme und können in Gesäß, Oberschenkel oder unteren Rücken ausstrahlen, jedoch selten über L5 hinaus.


1.3) Ursachen und Risikofaktoren


Verschiedene Faktoren erhöhen das Risiko, Kreuzbeinschmerzen zu entwickeln. Zu den wichtigsten zählen:


Beinlängendifferenz (echte oder scheinbare), die zu einer ungleichmäßigen Belastung beider ISG führt.


Alter über 50 Jahre, da altersbedingte degenerative Veränderungen zunehmen.


Inflammatorische Arthritis (z. B. Morbus Bechterew), die das ISG entzündet.


Vorherige Wirbelsäulenoperationen oder Traumata, die die Biomechanik des Beckens verändern können.


Schwangerschaft, durch hormonell bedingte Lockerung der Bänder und veränderte Statik.


1.4) Typische Auslöser


Akute Traumata wie Stürze auf das Gesäß oder Verdrehungen, aber auch chronische Fehlbelastungen durch einseitiges Heben, langes Sitzen oder schwaches Muskelkorsett können zu einer Dysfunktion des ISG und Kreuzbeinschmerzen führen. Besonders in der Schwangerschaft können hormonelle Veränderungen (Relaxin) die Gelenkintegrität reduzieren und zu schmerzhaften ISG-Dysfunktionen führen.



2) Chiropraktik bei Kreuzbeinschmerzen


2.1) Prinzipien und Techniken


Ein Chiropraktiker nutzt vor allem hoch­- geschwindigkeits-, niederamplituden (High-Velocity, Low-Amplitude, HVLA) Techniken, um blockierte oder subluxierte Gelenke zu mobilisieren und die normale Gelenkfunktion wiederherzustellen. Alternativ kommen Instrumenten-gestützte Methoden wie der Aktivator zum Einsatz, um gezielte Impulse auf das ISG auszuüben.


2.2) Evidenzlage


In einer randomisierten Studie mit 60 Patient:innen wurden HVLA- und instrumentengestützte Einstellungen (Activator) über vier Sitzungen verglichen. Beide Verfahren verbesserten Schmerzen und Funktion ohne signifikante Unterschiede zwischen den Gruppen.

Eine weitere RCT verglich zwei Behandlungen mit tatsächlicher chiropraktischer Manipulation versus Scheinbehandlung und fand eine deutlich stärkere Schmerzreduktion in der aktiven Gruppe.

Ein systematisches Review und Meta-Analyse berichtete, dass manuelle Therapien, zu denen auch chiropraktische und osteopathische Techniken zählen, die Behinderung durch ISG-Schmerzen signifikant verbessern, die Schmerzreduktion jedoch uneinheitlich ausfällt.



3) Osteopathie bei Kreuzbeinschmerzen


3.1) Prinzipien und Techniken


Ein Osteopath beurteilt somatische Dysfunktionen (fehlende Beweglichkeit von Gelenken, weichen Geweben und Faszien) und wendet verschiedene manuelle Techniken an, darunter Muskel-Energie-Techniken (MET), Faszientechniken und sanfte Mobilisationen des ISG, um die Gelenkfunktion und das Gleichgewicht der umgebenden Faszien und Muskeln wiederherzustellen  . Sacrale Rocking- und Anterio-Posteriore lumbopelvine Manipulation (sogenannte „Chicago-Technik“) sind weitere gängige Methoden.


3.2) Evidenzlage


Ein Pilot-RCT verglich sechs Sitzungen osteopathischer Manipulation des ISG mit 15 Sitzungen Elektrotherapie als Kontrolle. Die OMT-Gruppe zeigte signifikante Verbesserungen in Schmerz und funktioneller Behinderung gegenüber der Kontrollgruppe.

In einer weiteren Studie an Patient:innen mit chronischen Kreuzbeinschmerzen führte OMT zu einer Reduktion der Schmerzen und einer Verbesserung der Lebensqualität über einen Zeitraum von 4 bis 6 Wochen.

Zudem zeigen Beobachtungsdaten, dass insbesondere Schwangere von OMT profitieren, da hier pharmakologische Optionen oft eingeschränkt sind.


3.3) Diskussion und Limitationen


Obwohl mehrere RCTs die Wirksamkeit von Chiropraktik und Osteopathie bei Kreuzbeinschmerzen belegen, sind viele Studien klein und weisen methodische Einschränkungen auf, etwa fehlende Verblindung oder kurze Nachbeobachtungszeiträume. Zudem variieren die angewandten Techniken und Dosierungen stark, was Vergleiche erschwert. Systematische Reviews betonen, dass die Wirksamkeit für funktionelle Verbesserungen belastbarer ist als die reine Schmerzreduktion. Da Physiotherapie und andere medizinische Disziplinen hier außen vor bleiben sollten, konzentrieren sich die vorliegenden Daten ausschließlich auf manuelle Einstellungen durch Chiropraktiker und Osteopathen.



4) Erweiterte Diagnostische Verfahren


4.1) Klinische Provokationstests


• Zur Identifikation des Sakroiliakalgelenks als Schmerzquelle werden mehrfach kombinierte Provokationstests empfohlen: Distraction Test, Thigh Thrust Test, Compression Test, Sacral Thrust Test sowie Patrick’s (FABER) und Gaenslen’s Test. Die parallele Anwendung von mindestens drei Tests erhöht die diagnostische Genauigkeit auf über 80 %.


• Der Fortin Finger Test, bei dem Patient:innen den maximalen Schmerzpunkt zeigen, weist eine hohe Spezifität auf, wenn dieser innerhalb von 2 cm inferiomedial der posterioren oberen Darmbeinstachel liegt.


4.2) Bildgebung


• Konventionelle Röntgenaufnahmen dienen v. a. dem Ausschluss knöcherner Frakturen und tumoröser Veränderungen.


• MRT ist die Methode der Wahl bei Verdacht auf entzündliche Veränderungen (Sakroiliitis) und sollte coronal oblique T1‑gewichtete, fluid‑sensitive und axial oblique Sequenzen enthalten, um sowohl knöcherne Strukturen als auch Weichteil‑ und Knorpelveränderungen zu beurteilen.


• In unklaren Fällen kann ergänzend eine SPECT‑CT helfen, den Fokus entzündlicher Prozesse präziser zu lokalisieren.



5) Erweiterte therapeutische Ansätze


5.1) Kombinierte Anwendung von Chiropraktik und Osteopathie


• Synergieeffekte ergeben sich, wenn Chiropraktiker HVLA‑Techniken zur raschen Gelenkmobilisierung mit osteopathischen Muskel‑Energie‑Techniken (MET) und Faszienmobilisation kombinieren. Erste klinische Befunde deuten auf eine über additive Effekte hinausgehende Schmerzreduktion hin.


• Eine Meta‑Analyse zeigte, dass manuelle Therapieverfahren insgesamt die funktionelle Behinderung signifikant mindern, während die Schmerzreduktion variabler ausfällt – vermutlich bedingt durch heterogene Techniken und Dosierungen.


5.2) Patientenschulung und Selbstmanagement


• Eine strukturierte Aufklärung über Schmerzentstehung, Triggerfaktoren und den Einfluss psychosozialer Aspekte ist unerlässlich.


• Gezielte Heimübungsprogramme zur Core‑Stabilisierung (z. B. Draw‑In, Brücken, Plank) verbessern die Beckenstatik und reduzieren Rezidive.


5.3) Ergonomie und Alltagstipps


• Regelmäßige Haltungswechsel beim Sitzen und stehende Tätigkeiten an höhenverstellbaren Arbeitsplätzen mindern die Dauerbelastung des Iliosakralgelenks.


• Achten Sie auf korrektes Heben und Tragen (Last nahe am Körper, Kniebeuge statt Rumpfbeuge), um Scherkräfte im Becken zu minimieren.


5.4) Prävention


• Regelmäßige Bewegung mit Fokus auf Rumpf‑ und Beckenstabilität (Pilates, Yoga, gezielte Kräftigungsübungen) kann degenerativen Veränderungen vorbeugen.


• Ein ergonomischer Arbeitsplatz und rückenschonende Alltagsbewegungen reduzieren das Risiko für ISG‑Dysfunktionen langfristig.



6) Fazit


Kreuzbeinschmerzen sind ein häufiges und vielschichtiges Beschwerdebild, das durch eine Kombination aus anatomischen, biomechanischen und entzündlichen Faktoren verursacht wird. Sowohl chiropraktische Justierungen als auch osteopathische Manipulationen bieten evidenzbasiert sichere und effektive Methoden zur Reduktion von Schmerzen und zur Verbesserung der Funktion des Iliosakralgelenks. Für eine optimale Versorgung sollten Behandler individuell entscheiden, welche Techniken zum Einsatz kommen, und die begrenzte Studienlage durch eigene klinische Erfahrung ergänzen. Weitere hochwertige, langfristige RCTs sind erforderlich, um optimale Behandlungsprotokolle zu definieren und die Schmerzreduktion nachhaltig zu belegen.



7) Ausblick


Trotz positiver Einzelergebnisse sind größere, methodisch stringente Langzeit‑RCTs erforderlich, um optimale Kombinationsprotokolle und Dosierungen von Chiropraktik und Osteopathie zu definieren. Technologische Entwicklungen, etwa instrumentengestützte Kraftmessung und digitale Bewegungsanalyse, könnten zukünftig zur Standardisierung der manuellen Techniken beitragen und die Evidenzbasis weiter stärken.

 
 
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